15 Juli 2013

Hirtenwort

Wie viel Bildung darf man von Bundespolitikern erwarten? Von den so genannten Spitzenkandidaten der Parteien, die von uns als Wählerinnen und Wähler erwarten, dass wir am Wahltag unserer Kreuzchen bei ihrer Partei bzw. ihrer Person machen? Man kann davon ausgehen, dass, wenn man heute ein Interview mit einem derartigen Spitzenpolitiker liest, nichts Unüberlegtes publiziert wird, sondern dass das Interview vor der Veröffentlichung gegengelesen und freigegeben wurde. Am heutigen Montag erscheint nach diversen Vorankündigungen durch Nachrichtenagenturen ein Interview von einem der beiden Spitzenkandidaten der Grünen mit Spiegel online. Jürgen Trittin sucht aus der offenkundigen Schwäche der Bundesregierung in der NSA-Affäre Kapital zu schlagen, um die Wähler für die eigene Partei zu mobilisieren. Und so polemisiert er heftig herum, wirft der Koalition vor, zu „agieren wie die drei Affen - nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“ Und die Justizministerin, die in dieser Frage eher auf Seiten der Grünen agiert, nennt er einen Papagei, der immer dazwischen plappert. Und was wirft er der Bundesregierung vor? Vor allem Untätigkeit. Und dann kommt folgender Satz: 

„Da erwarte ich von der Bundesregierung ein Engagement. Stattdessen scheint sie auf alttestamentarische Art die andere Wange auch noch hinzuhalten.“

Dieser Satz ist auf so viele Arten verstörend, dass man gar nicht weiß, womit man anfangen soll. Darf ich von einem Spitzenpolitiker Deutschlands erwarten, dass er weiß, wo in der Bibel die Bergpredigt steht? Dass er das Zitat „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ richtig einordnen kann? Selbstverständlich greift Matthäus 5, 38 auch einen Vers aus der hebräischen Bibel auf. In Sprüche 20, 22 heißt es: „Sprich nicht: «Ich will Böses vergelten!» Harre des HERRN, der wird dir helfen.“ Aber die Formulierung mit der Wange ist – das gehörte einmal zum Bildungsbestand – einer der berühmtesten Sätze Jesu. Die antijudaistische Formulierung „alttestamentarische Art“ ist man ja inzwischen von Politikern gewohnt, neu ist, dass Trittin sie um von ihrem ursprünglichen denunziatorischen Kontext (das missverstandene „Auge um Auge, Zahn um Zahn“) löst und sie unter Beibehaltung des pejorativen Akzents mit einer gegenteiligen Aussage verbindet. Nun soll plötzlich die Feindesliebe etwas Schlechtes, eben „nach alttestamentlicher Art“ sein. Interessant ist auch gerade bei dieser Partei, dass Trittin die Gewaltlosigkeit, um die es in diesem Vers geht, nun als Inaktivität auslegt. Als hätten nicht Jahrzehnte des gewaltlosen Widerstands gezeigt, dass diese Art der paradoxen Intervention außerordentlich effektiv ist. Aber sei‘s drum. Ich frage mich seit heute, ob ich ernsthaft eine Partei für die Wahl in Betracht ziehen kann, deren Repräsentant a) von paradoxen Interventionen nichts versteht und deshalb b) den Verzicht auf Rachegedanken als mangelndes Engagement brandmarkt, dazu noch c) antijudaistische Klischees verbreitet, weil er d) nicht einmal weiß, wo die Bergpredigt zu verorten ist. Kultur nenne ich etwas Anderes. Nicht, dass es bei den Politikern anderer Parteien besser aussähe. Aber das hilft mir auch nicht. Ganz im Gegenteil.

[Update 12:00; 15.07.2013] Es hat gerade einmal 3 Stunden gedauert, dann wurde das Interview korrigiert. Nun heißt es an der betreffenden Stelle: "Da erwarte ich von der Bundesregierung ein Engagement. Stattdessen scheint sie die andere Wange auch noch hinzuhalten." Besser wäre es gewesen, Trittin hätte entweder das Missverständliche gar nicht erst gesagt oder es vor Veröffentlichung des Interviews korrigiert. Aber immerhin erweist sich Trittin in einem Punkt als lernfähig. Es scheint aber das "Wange hinhalten" immer noch für einen Fehler zu halten.