Nun hat auch der Spiegel, bestens ausgewiesenes Medium zur Verteidigung der Religionskultur, zumindest auf seiner Online-Ausgabe zum Familienpapier der EKD Stellung bezogen. Unter der Überschrift „Scheidung leichtgemacht“ bemüht sich Jan Fleischhauer nach Kräften, sich lächerlich zu machen. Man merkt gleich am Anfang, dass Fleischhauer offenbar seit Jahren nicht mehr auf einer evangelischen Hochzeit war. Um den Satz „Bis dass der Tod euch scheidet“ von der Agenda evangelischer Trauzeremonien zu nehmen, bedurfte es gewiss nicht eines Familienpapiers der EKD. Derartiges wurde schon lange im Traugespräch mit dem Paar abgesprochen.
Aber Fleischhauer nimmt es nicht so genau mit den Fakten. Die EKD hat ganz sicher nicht eine Orientierungshilfe zur Familienfrage für ihre Würdenträger herausgegeben. Zum einen dürfte die EKD als Verwaltungseinheit das gar nicht, das läge in der Hand der einzelnen Landeskirchen. Zum anderen sind die Pfarrerinnen und Pfarrer nach evangelischem Verständnis gar keine Würdenträger. Da muss sich Fleischhauer schon nach Rom wenden. Aber Fleischhauer wiederholt nur die ganz und gar vom Denken befreite Formel „Die Evangelischen sind nicht katholisch“. So ein Schreck aber auch. Ja, der Protestantismus ist die Religion, die das Selbstbestimmungsrecht des Individuums seit 500 Jahren konsequent gefördert hat – aus theologischen Gründen. Die merkwürdige Idee, dass das evangelische Subjekt einer übergeordneten Institution bedürfe, die ihm in religiöser Perspektive sagt, wo es lang geht, ist seit Jahrhunderten Makulatur der Religionsgeschichte. Sapere aude! kann man da nur sagen.
Dass Fleischhauer in seiner ressentimentgeladenen Kolumne auch noch schnell den antijudaistischen Sprachgebrauch „alttestamentarisch“ pflegt (Da wird selbst der sanfte Nikolaus Schneider, der Käßmann im Amt des EKD-Ratsvorsitzenden nachfolgte, ganz alttestamentarisch), verwundert kaum. Ja, die Juden waren immer schon ausfallend und zornig und die Evangelischen machen es ihnen in Fragen der Wirtschaftsethik nach. Die politischen Zuordnungen, die Fleischhauer vornimmt, sind ebenso lächerlich. Da wird sich Günter Beckstein aber wundern, dass er jahrelang Vizepräses der Synode der Kirche der Grünen war. Wie kann man nur auf so wenigen Zeilen so viel Unsinn schreiben?
Mir würde es aber reichen, wenn Fleischhauer nur eine einzige Predigt der letzten 500 Jahre benennt, mit der er – wie er so schön schreibt – „verlässlich“ Auskunft darüber bekommen könnte, was jenseits des Diesseits passiert. Denn er möchte von evangelischen ‚Würdenträgern‘ verlässlich Näheres über Himmel und Hölle erfahren. Da kann er lange warten. Kein Mensch dieser Welt kann ihm da helfen, selbst Visionen und Erscheinungen bieten keine „verlässliche“ Grundlage – da muss er schon selbst glauben. Schickt er deshalb seine Kinder in die Kirche, damit sie statt von der Rechtfertigungslehre und der vorausgehenden Gnade Gottes etwas über die Hölle erfahren? Dann sollte er die Konfession wechseln. Die Katholiken behaupten wenigstens ab und an, sie wüssten über die Hölle Bescheid.
21 Juni 2013
20 Juni 2013
Zeitgeist
Die neue Orientierungshilfe der EKD zur Familie löst unter konservativen Christen der beiden großen Konfessionen Ängste aus. Weil man schon längst Religion in Moral und Werte überführt hat, basht man nun die EKD, weil diese Moral und Werte anders bewertet als man selbst. Dass ein Journalist schreiben kann, die Leitlinien zeichne „eine schockierend unideologische Alltags- und Realitätsnähe aus“ und das kritisch meint, lässt mich daran zweifeln, ob er jemals begriffen hat, was Protestantismus eigentlich ist.
Letztlich wiederholt man nur einen Satz: dass die evangelische Kirche nicht katholisch sei. Gott sei Dank! Dass jemand nach der Aufklärung ernsthaft noch fragt, wer denn die Christen am Ende vertreten würde, ohne auf die Idee zu kommen, dass genau diese Frage vor knapp 500 Jahren die Differenz von evangelisch und katholisch begründet hat, ist schon merkwürdig und zeigt, dass der Protestantismus seine Ideen noch besser kommunizieren muss. Nein, nicht die EKD, nicht die katholische noch eine sonstige Kirche vertritt uns, wir bedürfen keiner Heilsschätze verteilenden Zwischeninstanzen, sondern stehen unmittelbar vor dem Herrn. Der theologische Überbau, den Ulf Poschardt in der WELT einklagt („die Kirche als Schwergewicht des Normativen“), ist gerade jener unerträgliche als Religion verbrämte Moralismus, den der Protestantismus zugunsten der Freiheit des Christenmenschen beiseite geräumt hat.
Heute leidet die Kirche unter einem moralischen Ballast, der aus einer Zeit stammt, als Religionen und Theologien nicht nur für die Gotteslehre, sondern auch für den Fortbestand der Gesellschaft zuständig waren. Sie mussten also Regeln aufstellen, die diesen Fortbestand zu garantieren schienen. Heute, in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, sind es die Bürger selbst, die diese Regeln diskutieren und über das Parlament festlegen. Und dabei stellen sie fest, dass der Bann des scheinbar Andersartigen, den frühere Gesellschaften gegenüber Minderheiten und auch anderen sexuellen Orientierungen ausgesprochen hat, sich nicht mehr halten lässt. Tattoos und Piercing sind keine Todsünden, auch wenn es in der Bibel so steht, und auch Homosexualität ist keine Sünde. Diese sich religiös gebende Verurteilung ist überholt.
Ja, die Evangelische Kirche lebt das „Anything goes“. Anders als Poschardt in der WELT es uns aber nahelegen will, heißt „Anything goes“ nach Paul Feyerabend gerade nicht Beliebigkeit, sondern das bewusste Erkunden der Freiheitsräume des Menschen. Schauen wir, was geht. Die Evangelische Kirche ist, das zeichnet sie aus, ein Schwergewicht der Freiheit.
Letztlich wiederholt man nur einen Satz: dass die evangelische Kirche nicht katholisch sei. Gott sei Dank! Dass jemand nach der Aufklärung ernsthaft noch fragt, wer denn die Christen am Ende vertreten würde, ohne auf die Idee zu kommen, dass genau diese Frage vor knapp 500 Jahren die Differenz von evangelisch und katholisch begründet hat, ist schon merkwürdig und zeigt, dass der Protestantismus seine Ideen noch besser kommunizieren muss. Nein, nicht die EKD, nicht die katholische noch eine sonstige Kirche vertritt uns, wir bedürfen keiner Heilsschätze verteilenden Zwischeninstanzen, sondern stehen unmittelbar vor dem Herrn. Der theologische Überbau, den Ulf Poschardt in der WELT einklagt („die Kirche als Schwergewicht des Normativen“), ist gerade jener unerträgliche als Religion verbrämte Moralismus, den der Protestantismus zugunsten der Freiheit des Christenmenschen beiseite geräumt hat.
Heute leidet die Kirche unter einem moralischen Ballast, der aus einer Zeit stammt, als Religionen und Theologien nicht nur für die Gotteslehre, sondern auch für den Fortbestand der Gesellschaft zuständig waren. Sie mussten also Regeln aufstellen, die diesen Fortbestand zu garantieren schienen. Heute, in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, sind es die Bürger selbst, die diese Regeln diskutieren und über das Parlament festlegen. Und dabei stellen sie fest, dass der Bann des scheinbar Andersartigen, den frühere Gesellschaften gegenüber Minderheiten und auch anderen sexuellen Orientierungen ausgesprochen hat, sich nicht mehr halten lässt. Tattoos und Piercing sind keine Todsünden, auch wenn es in der Bibel so steht, und auch Homosexualität ist keine Sünde. Diese sich religiös gebende Verurteilung ist überholt.
Ja, die Evangelische Kirche lebt das „Anything goes“. Anders als Poschardt in der WELT es uns aber nahelegen will, heißt „Anything goes“ nach Paul Feyerabend gerade nicht Beliebigkeit, sondern das bewusste Erkunden der Freiheitsräume des Menschen. Schauen wir, was geht. Die Evangelische Kirche ist, das zeichnet sie aus, ein Schwergewicht der Freiheit.
Label:
Ansicht,
Gesellschaft,
Kritik,
Religion
01 Juni 2013
Heft 83 von tà katoptrizómena ist erschienen!
White Cube
und versammelt folgende Texte:
EDITORIAL
White Cube – oder: Die Szenografie reformierten Glaubens
Andreas Mertin
Wolfgang Vögele
Was nicht mehr gedeutet werden kann.
Zum Spätwerk des Schweizer Malers Ferdinand Hodler
Wolfgang Vögele
UNTER DEN REIFEN LIEGT DIE STADT
Stichworte / Telegramm zum Thema Stadt
Barbara Wucherer-Staar
Berechtigte Kritik am Despotismus der Freiheit
und zugleich Begründung deutscher Revolutionsangst
Eine Rezension
Hans–Jürgen Benedict
Bilder-Dienst am Wort
Eine rezensierende Auseinandersetzung
Andreas Mertin
Literatur verlegen
Eine Besprechung
Andreas Mertin
Am nächsten Tag die nächste Geschichte
David Bowie „The Next Day“
Andreas Mertin
Heines Vorschlag zur Lösung der Kamelfrage, Steuersünder Hoeneß und die Superreichen von heute
Hans–Jürgen Benedict
Die „Fantastic Voyages“ von Gotye
Besprechungen ausgewählter Videoclips XXXVII
Andreas Mertin
Notizen I
Ein Blogsurrogat
Andreas Mertin
VIEW
Die Geste des weißen RaumesWhite Cube – oder: Die Szenografie reformierten Glaubens
Andreas Mertin
RE-VIEW
Clown in der DämmerungWolfgang Vögele
Was nicht mehr gedeutet werden kann.
Zum Spätwerk des Schweizer Malers Ferdinand Hodler
Wolfgang Vögele
UNTER DEN REIFEN LIEGT DIE STADT
Stichworte / Telegramm zum Thema Stadt
Barbara Wucherer-Staar
Berechtigte Kritik am Despotismus der Freiheit
und zugleich Begründung deutscher Revolutionsangst
Eine Rezension
Hans–Jürgen Benedict
Bilder-Dienst am Wort
Eine rezensierende Auseinandersetzung
Andreas Mertin
Literatur verlegen
Eine Besprechung
Andreas Mertin
Am nächsten Tag die nächste Geschichte
David Bowie „The Next Day“
Andreas Mertin
POST
„Wie unglücklich sind doch die Reichen“Heines Vorschlag zur Lösung der Kamelfrage, Steuersünder Hoeneß und die Superreichen von heute
Hans–Jürgen Benedict
Die „Fantastic Voyages“ von Gotye
Besprechungen ausgewählter Videoclips XXXVII
Andreas Mertin
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Ein Blogsurrogat
Andreas Mertin
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Theomag
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