Pünktlich zur Weihnachtszeit gibt's im deutschen Feuilleton das unvermeidliche Religions-Bashing. War es jahrzehntelang der SPIEGEL mit seiner Weihnachtsausgabe, in der uns versichert wurde, mit dem Christentum ginge es nun aber endgültig bergab, so haben dieses Jahr die journalistischen Konkurrenten gleichgezogen bzw. vorgezogen, diese Aufgabe zu übernehmen.
In der WELT ist es Chefkommentator Alan Posener, der unter der Überschrift "Warum Gott kein moralisches Vorbild ist" seine krausen Gedanken zu Papier bringt. Ehrlich gesagt, habe ich beim ersten Lesen des Artikels überhaupt nicht verstanden, was er uns sagen will. Schon die Überschrift ist ja etwas merkwürdig. Wer hat je gesagt, dass Gott ein moralisches Vorbild sei? Vorbilder sind in der biblischen Tradition in aller Regel Menschen und wenn sie als solche charakterisiert werden, wird sofort hinzugefügt, worin sie fehlen.
Für Posener ist Gott kein moralisches Vorbild, weil er nach der biblischen Tradition ziemlich merkwürdige Dinge von den Menschen verlangt (und dabei zählt Posener nicht einmal annäherungsweise die verfügbaren Merkwürdigkeiten auf - da könnte ihm jeder Theologe weiterhelfen.) Sicherheitshalber charakterisiert Posener die Bibel als fiktionale Literatur - um dann aufzuzeigen, dass diese fiktionale Literatur nicht für die Moral taugt. Selbst wenn man ihm darin folgt, gehörte doch in einem zweiten Schritt dazu, zu bestimmen, um welche Gattung fiktionaler Literatur es sich handelt. Hier dürften Atiologien doch anders bewertet werden als Märchen, dokumentarische Literatur wiederum anders als Poesie. Genau das aber unterlässt der Kommentar. Wie er überhaupt die Frage unerörtert lässt, warum überhaupt fiktionale Literatur als moralischer Stimulus gelten sollte. (Da schimmert ein altes Argument von Schiller durch: die ästhetische Erziehung der Menschheit.) Dass ein guter Teil der inkriminierten Stellen gerade dazu dient, humanes Verhalten in Gang zu setzen - diese Erkenntnis unterschlägt Posener.
Besonders wirr wird es, wenn Posener auf den Gott des Alten Testaments schimpft, um dann aufzuzeigen, dass der moralisch scheinbar integerere Gott des Neuen Testaments kein besseres Verhalten bei den Christen in Gang setzt. Offensichtlich scheint die literarische Charakteristik eines Gottesbildes in keiner Beziehung zum moralischen Verhalten der Menschen zu stehen. [Wie ja auch die fiktionale Literatur des Humanismus keine bessere Menschen geschaffen hat.]
Poseners Lösung ist dann wirklich Realsatire: wir brauchen keine Religion, weil wir genetisch auf Nächstenliebe programmiert sind: "Wären wir nicht genetisch vorprogrammiert, uns sozial zu verhalten, wir wären längst ausgestorben. Die menschliche Moral kommt vor der Religion." Angesichts der Geschichte der Menschheit müssen das aber ziemlich schwache Gene sein. Diese Mär von der altruistischen Programmierung ist auch nichts anderes als: fiktionale Literatur.