31 Juli 2013

Heft 84 von tà katoptrizómena ist erschienen!

Paradigmen theologischen Denkens II

und versammelt folgende Texte:
EDITORIAL

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Paradigmen theologischen Denkens - Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben
Teil IV: Weitere Verhältnisbestimmungen und Grenzziehungen
Stefan Schütze
  1. Einleitung: Theologie als stetiges Weiterfragen und Weiterdenken
  2. Komplextheologisches Denken und Dorothee Sölles mystische Schriften
  3. Komplextheologisches Denken und David H. Nikkels Theologie des "radical embodiment"
  4. Komplextheologisches Denken und die "postmodernen" theologischen Phänomenologien des Exzesses
  5. Komplextheologisches Denken und verschiedene "Entwicklungsmodelle" des "Gottesbewusstseins"
  6. Komplextheologisches Denken und Thomas J. J. Altizers Theologie des "Todes Gottes"
  7. Abschluss
  8. Postskript: Zwei Nachträge
  9. Literaturverzeichnis

Bruch-Stücke "trag- und sagfähigen Glaubens"
Oder der Schrei über den "garstig breiten Graben"
Matthias Giesel

RE-VIEW

Netzwerk
Hanna und Paul Gräb und das Verhältnis von Kunst und Kirche
Andreas Mertin

Auschwitz-Oper
Über Mieczyslaw Weinbergs Oper "Die Passagierin“
Wolfgang Vögele

Denken im Taubenschlag
Eine Medienanalyse
Andreas Mertin

"Ich will euch anerkennen bis ins Alter".
100 Alte als Altarbild und die Sakralität der Person im Pro und Contra
Hans-Jürgen Benedict

Das Kreuz mit dem Kreuz
Ein Buch zur visuellen Kommunikation der Kreuzestheologie
Andreas Mertin

Unter Beteiligung III
Kurzhinweise
Andreas Mertin

POST

Notizen II
Ein Blogsurrogat
Andreas Mertin

Spiegelungen
Vorstellungen ausgewählter Videoclips XXXVIII
Andreas Mertin

20 Juli 2013

Kunst und Religion

Zitat des Tages von Bazon Brock: "Nachdem der Kunstmarkt die Kunstkritik endgültig übernommen hat, retten sich marktlose Künstler scharenweise in die Arme von Kultur und Religion. Damit geht die Prognose vom Ende der Kunst in Erfüllung. 600 Jahre Kampf um die Autonomie der Kunst werden unter den Abermilliarden Dollar begraben, mit denen die Herren der Finanzwelt sogar den lieben Gott zu bestechen versuchten. Geld macht Glauben an den Wert der Kunst - Glauben macht Kunst zu Kultur."

15 Juli 2013

Religiöser Katastrophentourismus

Für manche Zeitgenossen findet die theologische Apokalypse beinahe tagtäglich statt. Irgendwo sagt einer was ganz Normales wie „Auch Frauen können ordiniert werden“ (1927 / 1958) oder „Jetzt wählen wir eine Frau zur Bischöfin“ (1992) oder „Jetzt lassen wir die Hochzeit gleichgeschlechtlicher Paare zu“ (2005) und schon geht wieder die Welt unter ... und wieder .... und wieder ... und wieder. Muss irgendwie Spaß machen dieser theologische und innerkirchliche Katastrophentourismus. Seitdem ich mich mit Fragen der Theologie beschäftige, gehört der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus zu dieser Gattung der theologischen Apokalypseverkünder. Wann immer jemand etwas sagt, was jenseits des lutherischen Minimalkonsenses liegt und nicht den Geruch des Wertekonservativen hat, kann man sicher sein, dass Beyerhaus mit apokalyptischen Warnungen auftritt. Das muss bei ihm wie ein pawlowscher Reflex sein, darin seinen Gesinnungsgenossen von der evangelikalen Bekenntnisfront nicht unähnlich. Frauenordination? Igittigitt! Wahl einer Bischöfin? Eine "der schwersten geistlichen Katastrophen"! Zulassung gleichgeschlechtlicher Paare zur Hochzeit? „Eine aktuelle sittliche Gefahr“ und ein „moralischer Flurschaden“, der einen sofortigen Rücktritt des Ratsvorsitzenden der EKD nach sich ziehen müsse. Was für ein autoritätsfixierter Müll.

Und die dazu passende apokalyptische Drohung: Sonst werde man katholisch! Na, hoffentlich, denkt man sich da und weiß doch, er und seine Gesinnungsgenossen tun es nicht, sonst entfiele die Grundlage für den heiß geliebten theologischen Katastrophentourismus. Dass die Kirche Paul Tillichs und Richard Niebuhrs, die United Church of Christ, bereits 2005 die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare zugelassen hat, ohne dass bisher erkennbar die Welt im Stil von Sodom und Gomorra untergegangen ist, verwundert angesichts derartiger katastrophischer Rhetorik. Nun kann man durch den Blick auf die scheinbare Katastrophe auch erstarren, so sehr, dass man zur Salzsäule wird. Statt aufzubrechen und die Welt zu gestalten, erfreut man sich an den eigenen Weltuntergangsphantasien. Wieder ... und wieder ... und wieder.

Noch fataler erscheint mir aber die geradezu totalitäre Sprache: „Sind Sie unter dem Eindruck des durch das EKD-Papier und Sie selber entfesselten Sturms bereit, eigene Fehlorientierung einzugestehen und sich angesichts der Heiligkeit Gottes – möglichst gemeinsam mit dem gesamten Rat der EKD – von ihm zu distanzieren?“ So spricht der Großinquisitor im Auftrag des Heiligen Geistes. Ratsvorsitzender Schneider soll eigene Fehlorientierung eingestehen? Diese Tonlage finde ich so unverschämt und beleidigend, dass ich mich frage, ob Beyerhaus noch alle Tassen im Schrank hat. Selbst die katholische Kirche hat die Inquisition längst abgeschafft. Auf die beyerhaussche Wiedervorlage kann ich gut und gerne verzichten.

Hirtenwort

Wie viel Bildung darf man von Bundespolitikern erwarten? Von den so genannten Spitzenkandidaten der Parteien, die von uns als Wählerinnen und Wähler erwarten, dass wir am Wahltag unserer Kreuzchen bei ihrer Partei bzw. ihrer Person machen? Man kann davon ausgehen, dass, wenn man heute ein Interview mit einem derartigen Spitzenpolitiker liest, nichts Unüberlegtes publiziert wird, sondern dass das Interview vor der Veröffentlichung gegengelesen und freigegeben wurde. Am heutigen Montag erscheint nach diversen Vorankündigungen durch Nachrichtenagenturen ein Interview von einem der beiden Spitzenkandidaten der Grünen mit Spiegel online. Jürgen Trittin sucht aus der offenkundigen Schwäche der Bundesregierung in der NSA-Affäre Kapital zu schlagen, um die Wähler für die eigene Partei zu mobilisieren. Und so polemisiert er heftig herum, wirft der Koalition vor, zu „agieren wie die drei Affen - nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“ Und die Justizministerin, die in dieser Frage eher auf Seiten der Grünen agiert, nennt er einen Papagei, der immer dazwischen plappert. Und was wirft er der Bundesregierung vor? Vor allem Untätigkeit. Und dann kommt folgender Satz: 

„Da erwarte ich von der Bundesregierung ein Engagement. Stattdessen scheint sie auf alttestamentarische Art die andere Wange auch noch hinzuhalten.“

Dieser Satz ist auf so viele Arten verstörend, dass man gar nicht weiß, womit man anfangen soll. Darf ich von einem Spitzenpolitiker Deutschlands erwarten, dass er weiß, wo in der Bibel die Bergpredigt steht? Dass er das Zitat „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ richtig einordnen kann? Selbstverständlich greift Matthäus 5, 38 auch einen Vers aus der hebräischen Bibel auf. In Sprüche 20, 22 heißt es: „Sprich nicht: «Ich will Böses vergelten!» Harre des HERRN, der wird dir helfen.“ Aber die Formulierung mit der Wange ist – das gehörte einmal zum Bildungsbestand – einer der berühmtesten Sätze Jesu. Die antijudaistische Formulierung „alttestamentarische Art“ ist man ja inzwischen von Politikern gewohnt, neu ist, dass Trittin sie um von ihrem ursprünglichen denunziatorischen Kontext (das missverstandene „Auge um Auge, Zahn um Zahn“) löst und sie unter Beibehaltung des pejorativen Akzents mit einer gegenteiligen Aussage verbindet. Nun soll plötzlich die Feindesliebe etwas Schlechtes, eben „nach alttestamentlicher Art“ sein. Interessant ist auch gerade bei dieser Partei, dass Trittin die Gewaltlosigkeit, um die es in diesem Vers geht, nun als Inaktivität auslegt. Als hätten nicht Jahrzehnte des gewaltlosen Widerstands gezeigt, dass diese Art der paradoxen Intervention außerordentlich effektiv ist. Aber sei‘s drum. Ich frage mich seit heute, ob ich ernsthaft eine Partei für die Wahl in Betracht ziehen kann, deren Repräsentant a) von paradoxen Interventionen nichts versteht und deshalb b) den Verzicht auf Rachegedanken als mangelndes Engagement brandmarkt, dazu noch c) antijudaistische Klischees verbreitet, weil er d) nicht einmal weiß, wo die Bergpredigt zu verorten ist. Kultur nenne ich etwas Anderes. Nicht, dass es bei den Politikern anderer Parteien besser aussähe. Aber das hilft mir auch nicht. Ganz im Gegenteil.

[Update 12:00; 15.07.2013] Es hat gerade einmal 3 Stunden gedauert, dann wurde das Interview korrigiert. Nun heißt es an der betreffenden Stelle: "Da erwarte ich von der Bundesregierung ein Engagement. Stattdessen scheint sie die andere Wange auch noch hinzuhalten." Besser wäre es gewesen, Trittin hätte entweder das Missverständliche gar nicht erst gesagt oder es vor Veröffentlichung des Interviews korrigiert. Aber immerhin erweist sich Trittin in einem Punkt als lernfähig. Es scheint aber das "Wange hinhalten" immer noch für einen Fehler zu halten.

11 Juli 2013

Die Feinde der offenen Gesellschaft

Man kann der EKD nur dankbar sein, dass sie ihre Orientierungshilfe so dezidiert formuliert und zur Diskussion gestellt hat. Zumindest eines wurde damit erreicht: die Feinde einer offenen und freien Gesellschaft fühlen sich provoziert.

Ein bestimmter konservativer Teil der katholischen Kirche versteht Katholizismus seit einigen Jahren weniger als Bekenntnis zu Jesus Christus, als vielmehr als ideologische Motivation zur Verfolgung von Homosexuellen. Kreuz.net war da nur die Spitze des Eisberges. Wie verbreitet die Verachtung von Homosexuellen ist, kann man auf kath.net oder katholisches.info nachlesen, wo Evangelische schon gerne mal als ‚Protestunten‘ bezeichnet werden. Nun ist es mir ganz egal, wie die Katholische Kirche und manche ihrer Zirkel ihr Verhältnis zur Homosexualität bestimmen – solange das nur die Katholiken betrifft. Das müssen sie unter sich ausmachen. Wenn es ihnen gefällt, Gott so zu denken, dass dieser die sexuelle Identität mancher Menschen grundsätzlich ablehnt – bitte schön, wer das glauben mag. Mein Gottesbild ist ein anderes.

Was wir als Teil der offenen Gesellschaft aber nicht tolerieren sollten, ist der Versuch einer konservativ-katholischen Domestizierung unserer Lebenswelt. Nur weil manche Katholiken ein Problem mit Homosexualität und eben auch mit Homosexuellen haben, muss der Rest der Gesellschaft nicht darunter leiden. Geht man davon aus, dass selbst in der katholischen Kirche die Homosexuellen-Phobie nur eine minoritäre Position ist, dann erleben wir gerade, wie eine aggressive kleine Minderheit weltweit die Menschenrechte – und hier meine ich das Menschenrecht der Homosexuellen auf Gleichbehandlung – einzuschränken sucht. Ich sehe in diesem Sinne das Forum Deutscher Katholiken als Feind einer offenen und freien Gesellschaft. Dass ausgerechnet ein Vertreter dieses Forums sich gegen die EKD auf die Falsifizierungsthese von Karl Popper beruft ist wirklich eine Beleidigung des kritischen Rationalismus und lässt fragen, ob der Betreffende begriffen hat, was diese These besagt. Karl Popper ist ein dezidierter Vertreter einer offenen Gesellschaft und damit ein Kritiker dessen, was der konservative Katholizismus mit seiner Ausgrenzung der Homosexuellen intendiert. Deshalb war für Popper die strikte religiöse Neutralität der Gesellschaft wichtig.

Dass konservative Vertreter der katholischen Kirche im Konzert mit Vertretern der Evangelikalen nun ernsthaft meinen, der Evangelischen Kirche vorwerfen zu müssen, diese halte sich nicht an Schrift und Bekenntnis, ist lachhaft. Da würde ich doch vorschlagen, lieber gründlich vor der eigenen Tür zu kehren.

Warum aber diese panikartigen Attacken auf ein Papier der EKD? Der konservative Katholizismus erkennt, dass er mit seinen Positionen in unserer freien Gesellschaft keine Rolle mehr spielt. Nicht einmal die Katholiken selbst halten sich an katholische Regeln zur Sexualmoral – weder in Sachen Kondomgebrauch, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Scheidung usw. Dieses ganze Gebäude der Identifizierung von Religion mit Moral ist in sich zusammengestürzt. Selbst die CDU hat erkannt, dass dieser Konnex uns nicht weiterbringt. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf, wird nun alles niedergemacht, was andere Positionen vertritt. Und es reicht offenkundig nicht zu sagen, ich denke anders, sondern man muss dem anderen auch noch grundsätzlich seine Position bestreiten. Helfen wird das den konservativen Katholiken aber auch nicht: Tempora mutantur, nos et mutamur in illis.

08 Juli 2013

Welcome


Resonanzen zum Familienpapier

Der Streit um das Familienpapier der EKD ist in vielerlei Hinsicht bizarr. Im Wesentlichen kritisieren Menschen außerhalb der EKD das Papier. Dass Funktionäre einer Splittergruppe, die nicht einmal Abendmahlsgemeinschaft mit der EKD hat, meinen, sich abwertend zu einem Orientierungspapier der EKD äußern zu müssen, ist schon ein starkes Stück. Nichts spricht dagegen, dass die SELK ihre eigene Position zur Ehe darlegt. Das ist ihr Recht. Aber es hat keine Bedeutung für den Bereich der EKD. Die SELK vertritt in ganz Deutschland mit 34.000 Gläubigen weniger Menschen als der Superintendent meiner Heimatstadt (der Kirchenkreis Hagen hat 78.000 evangelische Christen). Aber die SELK meint, sich in die religiösen Belange der EKD einmischen und sie belehren zu können. Das ist schon dreist.

Aber auch das Dialog-Verständnis der katholischen Kirche will mir nicht recht einleuchten. Das EKD-Papier erschwere die Ökumene. Warum? Weil es eine andere theologische Position vertritt? Wenn wir übereinstimmen, brauchen wir keinen Dialog. Dialoge leben davon, dass andere differente Ansichten haben, über die man sich austauscht.

Nun ist es das Bemerkenswerte am EKD-Papier, dass es Positionen artikuliert, die seit Jahren im Protestantismus und unter Theologen selbstverständlich sind, ja die bereits in die Standard-Lexika aufgenommen wurden. Vielleicht ist es aber so, dass diese Positionen zwar im Kopf angekommen sind, aber nicht im Herzen und in der Lebenswirklichkeit? Die EKD sollte also aus der Diskussion um das Familienpapier eine Tugend machen und die Position des Protestantismus noch einmal klar akzentuieren. Dazu würden dann Sätze wie die Folgenden gehören:

„Von der Ehe als ‚göttlicher Schöpfungsordnung‘ zu sprechen, hält der kritischen theologischen Nachfrage nicht stand ... Eine religiöse Verabsolutierung der Ehe findet sich in der Bibel nicht. Die christlich-ethischen Auffassungen zu Bedeutung und Inhalt der Ehe haben sich zudem als besonders zeitbedingt und ideologieanfällig erwiesen ... Es ist deswegen aus der Sicht christlicher Ethik richtig, für die rechtliche Anerkennung nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften einzutreten, um die verbindliche Gemeinschaft auch jenseits traditioneller Lebensformen zu fördern. Der Leitbildcharakter der Ehe muss keineswegs mit der Abwertung nicht-ehelicher Lebensformen  verbunden werden.“ (Heinrich Bedford-Strohm, Artikel Ehe, Taschenlexikon Religion und Theologie, Göttingen 5/2008).

Heinrich Bedford-Strohm (heute Bischof der bayerischen Landeskirche und damit Vertreter von 2,5 Millionen evangelischen Christen) zieht daraus den Schluss, es gehe künftig darum, eine „Kultur der Verbindlichkeit“ zu pflegen. Das Familienpapier der EKD steht, soweit ich es sehe, in dieser Tradition der Kultivierung von Verbindlichkeit.

Und es gibt keinen Grund, hier auch nur einen Schritt zurückzutreten. Ganz im Gegenteil, wir müssen es noch viel lauter sagen:

„Dass den Menschen von Gott quer zu den Geschlechtergrenzen ganz unterschiedliche Begabungen und Talente geschenkt werden (1. Kor 12), hat Folgen für die Gestaltung von Partnerschaft und Familie. Nicht traditionelle biologische oder gesellschaftliche Rollenzuschreibungen können Grundlage der Organisation familiären Zusammenlebens sein, sondern die Form solchen Zusammenlebens muss in wechselseitigem Konsens je nach Präferenz und Begabung partnerschaftlich vereinbart werden.“ (Ebenda)