20 Juni 2013

Zeitgeist

Die neue Orientierungshilfe der EKD zur Familie löst unter konservativen Christen der beiden großen Konfessionen Ängste aus. Weil man schon längst Religion in Moral und Werte überführt hat, basht man nun die EKD, weil diese Moral und Werte anders bewertet als man selbst. Dass ein Journalist schreiben kann, die Leitlinien zeichne „eine schockierend unideologische Alltags- und Realitätsnähe aus“ und das kritisch meint, lässt mich daran zweifeln, ob er jemals begriffen hat, was Protestantismus eigentlich ist.

Letztlich wiederholt man nur einen Satz: dass die evangelische Kirche nicht katholisch sei. Gott sei Dank! Dass jemand nach der Aufklärung ernsthaft noch fragt, wer denn die Christen am Ende vertreten würde, ohne auf die Idee zu kommen, dass genau diese Frage vor knapp 500 Jahren die Differenz von evangelisch und katholisch begründet hat, ist schon merkwürdig und zeigt, dass der Protestantismus seine Ideen noch besser kommunizieren muss. Nein, nicht die EKD, nicht die katholische noch eine sonstige Kirche vertritt uns, wir bedürfen keiner Heilsschätze verteilenden Zwischeninstanzen, sondern stehen unmittelbar vor dem Herrn. Der theologische Überbau, den Ulf Poschardt in der WELT einklagt („die Kirche als Schwergewicht des Normativen“), ist gerade jener unerträgliche als Religion verbrämte Moralismus, den der Protestantismus zugunsten der Freiheit des Christenmenschen beiseite geräumt hat.

Heute leidet die Kirche unter einem moralischen Ballast, der aus einer Zeit stammt, als Religionen und Theologien nicht nur für die Gotteslehre, sondern auch für den Fortbestand der Gesellschaft zuständig waren. Sie mussten also Regeln aufstellen, die diesen Fortbestand zu garantieren schienen. Heute, in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, sind es die Bürger selbst, die diese Regeln diskutieren und über das Parlament festlegen. Und dabei stellen sie fest, dass der Bann des scheinbar Andersartigen, den frühere Gesellschaften gegenüber Minderheiten und auch anderen sexuellen Orientierungen ausgesprochen hat, sich nicht mehr halten lässt. Tattoos und Piercing sind keine Todsünden, auch wenn es in der Bibel so steht, und auch Homosexualität ist keine Sünde. Diese sich religiös gebende Verurteilung ist überholt.

Ja, die Evangelische Kirche lebt das „Anything goes“. Anders als Poschardt in der WELT es uns aber nahelegen will, heißt „Anything goes“ nach Paul Feyerabend gerade nicht Beliebigkeit, sondern das bewusste Erkunden der Freiheitsräume des Menschen. Schauen wir, was geht. Die Evangelische Kirche ist, das zeichnet sie aus, ein Schwergewicht der Freiheit.