21 Juli 2012

Stammtischgerede

Wer hat wohl folgenden besinnungslosen Satz von sich gegeben?

"Was ist das eigentlich für eine Vorstellung von Gott, der irgendwo in diesem unendlichen Universum sitzt oder schwebt und den richtigen Glauben an ihn von einer Beschneidung des Penis abhängig macht? Ein absurdes und perverses Gottesbild, das in der alttestamentarischen Theologie entstanden ist, um die völkische Einheit der Juden zu sichern."

Wie viel Unkenntnis kann man eigentlich in einen einzigen Satz packen? Und ich meine damit nicht nur das unselige antisemitische "alttestamentarisch", das heute ja schon zur Gewohnheitssprache geworden ist. Nein, ich meine die Tatsache, dass hier bar jeder Kenntnis der Genese der Beschneidung alles Halbwissen über das Judentum zusammengekratzt wird, um sein stereotypes Unbehagen an einem angeblich überholten Gottesbild zu artikulieren.

In Wirklichkeit ist die Beschneidung jedoch "ein uralter Brauch, der in Palästina schon praktiziert wurde, bevor Israel dem Glauben an JHWH als seinen Gott anhing. Auch Nachbarvölker Israels wie Ägypter, Edomiter, Ammoniter und Moabiter übten die Beschneidung." Wissenschaftliches Bibellexikon, Art. Beschneidung. Nichts also mit "alttestamentarischer Theologie", nichts mit "völkischer Einheit" - das ist bloßes Gefasel und eine gefährliche Wortwahl zumal.

In der Sache geht es um Regeln, die sich Religionen geben und die mit denen der modernen Gesellschaft in Konflikt geraten können. Da muss ein Interessensausgleich hergestellt werden. Einige der Regeln wird der moderne Staat akzeptieren können, andere nicht. Erinnern wir uns daran, dass noch vor kurzem ein christlicher Familienvater unter Bezug auf biblische Verse das Recht erzwingen wollte, seine Kinder zu züchtigen. Diesem Gedanken folgen wir nicht. Andere Regeln akzeptieren wir als Regeln einer Religion (bis dahin, dass manche Gesellschaften Angehörigen bestimmter Religionen z.B. Rauschgiftgenuss zubilligen, den sie anderen verwehrt).

Persönlich fände ich es gut, wenn die Möglichkeit zur Beschneidung in gestaltetes positives Recht umgesetzt würde und zugleich die Voraussetzungen und Grenzen dieses Vorgangs benannt würden. Aber da kann man auch anderer Meinung sein. Unbehagen habe ich dabei, wenn gar nicht mehr die Interessen abgewogen werden, sondern Vorurteile kultiviert werden. Und dafür ist Heiner Geißlers Kommentar ein gutes Beispiel.

16 Juli 2012

Wofür man sich nur schämen kann

Es kommt nicht oft vor, aber dazu mir fehlen die Worte.



Ein Liebes-Symposium der fürchterlichsten Art.

10 Juli 2012

Seitenhiebe

"Den Geschäftsführer Leifeld lockte Thierse bei der Debatte um die von der d13-Leitung kritisierte Ausstellung von Stephan Balkenhol aus der Reserve. Kommunikativ habe er in dem Streit längst verloren, bekannte Leifeld: „Wir sind die kleinkarierten Typen, die die Kunst der anderen verhindern wollen.“ Trotzdem konnte er sich einen Seitenhieb auf Balkenhol nicht verkneifen. Manche Künstler, meinte Leifeld, würden ein Leben lang leiden, dass sie nicht zur documenta eingeladen werden – und dann könnten sie in einem katholischen Kirchturm ausstellen." (-> HNA-Meldung)

Nun ja, katholische Kirchtürme versus Leuchtturm documenta. Das kann man ja mal empirisch ausrechnen: im Rahmen ihrer 100 Tage bekommt die documenta 750.000 Besucher (wobei sie Besucher, die mehrere Eintrittskarten kaufen, auch mehrfach zählt). Allein die katholische Kirche in Deutschland hat an einem durchschnittlichen Sonntag mehr als 2,5 Million Besucher. Macht mehr als 35 Millionen Besucher während der documenta-Zeit. Soweit zur empirischen Relevanz der Ereignisse (750.000 zu 35.000.000). Da muss man sich schon arg überschätzen, wenn man abfällig über katholische Kirchtürme spricht. Selbst wenn man die Museums- und Ausstellungsbesucher zeitgenössischer Kunst parallel mit einrechnet, kommt man kaum auf bessere Zahlen. Soweit zur Abstimmung mit den Füßen. Und die Themen der documenta13, Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, sind Thema in jeder katholischen Kirche. Garantiert.

09 Juli 2012

Berliner Gemäldegalerie

Kunst: Rettet die Berliner Gemäldegalerie! »
Die Gemäldegalerie ist eine der schönsten Kunstsammlungen der Welt. Jetzt sollen weite Teile im Depot verschwinden, um Platz für Werke des 20. Jahrhunderts zu schaffen.

documenta-Realsatire

»Ich begrüße die »doccupy«-Bewegung auf dem Friedrichsplatz, die in den letzten Wochen gewachsen ist. Sie setzt die Welle der demokratischen Proteste fort, die sich über viele Städte der Welt verbreitet hat. Sie realisiert die Möglichkeit, die Nutzung des öffentlichen Raumes neu zu erfinden und scheint mir im Geiste der Zeit zu sein ...« lässt die Leiterin der dOCUMENTA(13) heute vermelden.Das klingt irgendwie ganz anders als ihr Protest gegen die im Vergleich zu den doccupa-Zelten weitabstehende Skulptur von Stephan Balkenhol. Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Nein, ich glaube nicht. Es ist die alte linke vulgärmaterialistische Ideologie des 19. Jahrhunderts, die hier durchschlägt. Man findet alles gut, was nach Protest gegen die Herrschenden klingt (und sei die Zielgruppe auch die happy few der documenta-Besucher) und alles schlecht, was unter etablierten Institutionen rubriziert werden kann (auch wenn diese sich mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen). Das nennt man dann wohl konsequente Zeitgeist-Orientierung. Oder sollte man besser sagen: Zeitgeist-Bewegung?

04 Juli 2012

Stephan Pfürtner

... einer der Großen der deutschsprachigen Theologie ist am 2. Juli 2012 verstorben.

Weitere Infos zur Person finden sich hier und hier.

William Kentridge


Death, Time, Soup: A Conversation with William Kentridge and Peter Galison

02 Juli 2012

Einsichten

zur documenta13 verspricht Tim Pickartz in seinem Blog:

100 Tage 100 Ansichten

23 Juni 2012

Kunst

Documenta: Brauchen wir Kunst? »
Und wenn ja, wozu, fragt der Philosoph Christoph Menke in der ZEIT. In Kassel hat die Documenta eröffnet und eine aufregende Kontroverse über zeitgenössische Werke entfacht.

05 Juni 2012

Zensur als Geschmacksfrage

Zum zweiten Mal lese ich im deutschsprachigen Feuilleton das Argument, dass die Verhinderung einer Ausstellung durch die documenta-Leitung nicht so schlimm sei, wenn es einen Künstler treffe, der einem persönlich nicht gefällt. Sprach zuerst die NZZ vom Gruselkünstler Schneider, so nun die FAZ vom Essentialkitsch des Künstlers - und beides mit der Implikation, dass das Rechtfertigung genug sei, die Ausstellung abzusagen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen - oder wie soll man das verstehen? Wird Zensur jetzt zur Geschmacksfrage? Und hängt die Freiheit der Kunst davon ab, ob mir die ausgestellten Werke gefallen?

Nun bestreitet Niklas Maakk in der FAZ, dass überhaupt Zensur stattgefunden habe. Und er beruft sich auf die Pressesprecherin der documenta. Das ist nun deshalb merkwürdig, weil der Geschäftsführer der documenta zuvor auf der ersten Pressekonferenz zur Balkenhol-Ausstellung vor laufenden Kameras und Mikrofonen gesagt hatte, dass - anders als die katholische Kirche - die evangelische Kirche sich dem Protest der documenta gefügt hätte. Wie das, wenn doch die documenta gar nichts davon wusste und keinen Einfluss darauf genommen hat? Weiß bei der documenta die Rechte nicht was die Linke tut? Klar ist, dass die documenta-Leiterin - anders als ihre beiden Vorgänger - allen Gesprächen mit der Kirche aus dem Weg gegangen ist. Und klar ist ebenso, dass die documenta auf Anfrage der Evangelischen Kirche deutlich gemacht hat, dass sie eine Außeninstallation von Schneider nicht dulden wird. Insofern geht es de facto um das Verhindern einer Kunstausstellung. Sinnvoll wäre ein befriedendes Gespräch gewesen. Aber das scheint nicht stattgefunden zu haben.

01 Juni 2012

Heft 77 von tà katoptrizómena ist erschienen!


trägt den Titel
 
NICHTS

und beschäftigt sich mit den ausbleibenden Aktivitäten der Evangelischen Kirche auf dem Gebiet der Bildenden Kunst während der dOCUMENTA(13) und gegen die Absage der geplanten Begleitausstellung.
Aus Protest gegen dieses mangelnde Engagement werden alle Artikel dieser Ausgabe mit weißer Schrift auf weißem Grund publiziert. Näheres dazu finden Sie im

EDITORIAL

VIEW

Parturient montes, nascetur ridiculus mus
Die evangelischen Aktivitäten zur d(13)
Andreas Mertin

Salon de Kassel
Der Gestus des Exklusiven
Andreas Mertin

Eine protestantische Sicht auf die Kunst
Zehn Grund-Sätze
Andreas Mertin

RE-VIEW

4′33″ - Oder: die wahre Provokation des NICHTS
Was man von der Kunst hätte lernen können
Andreas Mertin

POST

"Einsichtslos will jeder laut das Nichts verheißen"
Literarische Sentenzen
et alii

16 Mai 2012

Kunst - Kirche - documenta

Nachdem nun öffentlich bekannt wurde, dass sich die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck von der documenta erfolgreich hat unter Druck setzen lassen, ein mit Gregor Schneider (Vertreter Deutschlands auf der Biennale 2001 in Venedig und Gewinner des Goldenen Löwen) geplantes Kunstprojekt abzusagen, werden ernste Fragen an das Kunstverständnis der evangelischen Kirche laut:
Unter welchen Gesichtspunkten setzt sich die Ev. Kirche mit Kunst auseinander? Was bedeutet Kunst für sie? Inwieweit kann man etwas, was man für eine erforderliche Begegnung hält, einfach aufgeben?

14 Mai 2012

Wahrnehmungsschulung

Klaus Baum hat auf seinen Blog "Notizen aus der Unterwelt" zwei wunderbare fotografische Einsichten publiziert, die sinnlich wahrnehmbar machen, inwiefern der Einwand der documenta-Leitung gegenüber der Balkenhol-Skulptur völlig unbegründet ist. Zu finden ist das visuelle Argument hier:
Ja, Klaus Baum hat Recht, das ist "ein Lehrstück für das, worauf die Nachdenkseiten immer wieder hingewiesen haben: Irgendwelche Autoritäten behaupten etwas, und alle sprechen es nach, ohne sich selbst davon zu überzeugen, ob denn die Behauptung auch stimmt."

Vielen Dank für die visuelle Aufklärung!

10 Mai 2012

Zur Balkenhol-Skulptur in Kassel

Ein ausgezeichneter Kommentar zum Konflikt um die Balkenhol-Skulptur in Kassel im Vorfeld der documenta findet sich bei Dirk Schwarze in seinem auch sonst empfehlenswerten documenta-Blog "Schwarze Kunst".

Kommentar von Dirk Schwarze

Nur zwei kleine Ergänzungen: die erste documenta-Begleitausstellung fand schon 1982 unter dem Stichwort "Abendmahl. Zeitgenössische Positionen" statt und präsentierte Werke u.a. von Ben Willikens, Timm Ulrichs, Klaus Staeck, Johannes Grützke.

Und die späteren Begleitaustellungen der Ev. Kirche nach 1997 fanden nicht nur in Absprache mit der documenta statt, sondern während der documenta 11 besuchte der künstlerische Leiter der documenta zum Künstlertag der Kirche auch demonstrativ die Ausstellung und hielt eine Ansprache. Und der Leiter der letzten documenta lud den Ratsvorsitzenden der EKD zum Gang über die documenta ein. Wie sich die Zeiten ändern. Es muss also wirklich an der Persönlichkeit der jetzigen documenta-Leiterin liegen, dass nun etwas schief läuft.

09 Mai 2012

Skandal Kunst und Kirche

In Kassel gibt es im Augenblick einen skandalösen Streit zwischen der documenta-Leitung und der katholischen Kirche. Dabei offenbart die documenta ein ziemlich totalitäres Kunstverständnis, das einen an die Zeiten des 19. Jahrhunderts erinnert. Worum geht es? Die katholische Kirche hat für die Zeit der documenta den weltweit berühmten Künstler Stephan Balkenhol in die St. Elisabeth-Kirche eingeladen Und dort zeigt er einige seiner Skulpturen, u.a. auch auf dem Turm der Kirche. Die documenta meint nun, im Sinne eines Gesamtkunstwerks über ganz Kassel verfügen zu können und möchte am liebsten die Kunstaktivität untersagen. Wo andere maßgebliche Ausstellungen wie die Biennale in Venedig jeweils die Kunst-Veranstaltungen anderer Aussteller, die die zentrale Ausstellung begleiten, explizit hervorheben, suchen die Kasseler Veranstalter Kunst zu unterdrücken und verweisen stolz darauf, dass es ihnen im Fall der Evangelischen Kirche auch gelungen sei. Wie unendlich peinlich - für die documenta und die Evangelische Kirche.

Hier gibt es weitere Infos:

01 April 2012

Heft 76 von tà katoptrizómena ist erschienen!

trägt den Titel
Paradigmen theologischen Denkens

und enthält folgende Beiträge:
 
EDITORIAL

VIEW

Paradigmen theologischen Denkens
Auf der Suche nach einem für mich heute
tragfähigen und sagfähigen Glauben. Teil III
  • Die 'anatheistische' religiöse Denkbewegung nach Richard Kearney
  • Weitere anatheistische Annäherungen an Gott
  • Anatheismus und Kant
  • Gott als 'Horizont' des menschlichen Denkens
Stefan Schütze

Das Dilemma des Redens und Schweigens
Offenbarungs- und Versöhnungsaspekte christlicher Theologie
Matthias Giesel

Ein Kreuz bleibt leer
Vom Für uns zum Miteinander – eine neue Deutung des Todes Jesu
Hans-Jürgen Benedict

RE-VIEW

Kultur des Digitalen und protestantische Gestalt
Notwendige Anmerkungen
Andreas Mertin

Pro Domo
Buchvorstellungen
Andreas Mertin

Religion und Medien
Rezensionen
Andreas Mertin

Aus der Anderen Bibliothek
Anmerkungen und Vorstellungen
Andreas Mertin

Die 'ideale' Kirche
Ein Projekt und (k)ein Zeichen
Andreas Mertin

POST

Luther als Nerd. Oder: die ultimative Verschwörung
Zur aktuellen Ikonographie des Religiösen VII

Videoclips XXXI
Die ewige Widerkehr oder eine Echternacher Springprozession
Andreas Mertin